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Alexander Losse
Die Geburt des Objekts klein a
Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis
Jahrgang XXV, 2010, 1/2

 

In den späten zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts produzierte der ausgebildete Biochemiker, Autor und Philosoph Paul Nougé (1895-1967) 19 Photographien, die erst 1968 unter dem Titel “Subversion d’images” in Paris veröffentlicht werden sollten. Die Fremdheit, die die dargestellten Szenen evozieren, steht dabei in engem Verhältnis zum Formenrepertoire Nougés surrealistischer Kollegen René Magritte, E.T.L.Mesens u.a., deren Werke die ungewöhnlichen Anordnungen gewöhnlicher Objekte zeigen. Weiterhin scheint allen Photographien gemeinsam zu sein, dass sie auf der einen Seite von Zeichen, Assoziationen und Geschichten unterminiert werden, während sie selbst zugleich die Verzeitlichungen und Nachträglichkeiten immer wieder aufs neue im Bild subvertieren.

Die Photographie, auf die sich das filmische Remake “naissance d’un objet” von 2008 bezieht, zeigt eine Raumecke, links einen angeschnittenen Kamin, rechts ein Stück eines hohen Fensters mit Vorhang. In der Mitte des Bildes ist eine Gruppe von fünf Personen zu sehen, die leicht vorgebeugt, gespannt und fasziniert die linke Wand betrachten. Ihre Blicke richten sich auf etwas an oder vor der Wand, das nicht zu sehen ist.

Im Film werden Elemente der Photograhie aufgegriffen. Beispielsweise die feste Einstellung einer Raumecke. Links - ebenfalls angeschnitten - ein Kamin, rechts das Ende eines Tisches, an dem eine Personengruppe zu Beginn des Films sitzt. Die Personen unterhalten sich, würfeln, kommentieren ihr Spiel beiläufig. Als eine der Spielerinnen im Gespräch ihren Kopf wendet, bemerkt sie etwas im Zentrum des Raumes. Die Anderen folgen ihrem irritierten Blick, das Zentrum des Bildraums wird zum Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Personen rätseln über sein unerklärliches Auftauchen. Die Frage „Was siehst du?“ bleibt unbeantwortet. Dabei wird die Sicht immer wieder von den Protagonisten verdeckt, um sie jedoch sogleich wieder einer Leerstelle auszuliefern.

Photographie wie Filmbild sind primär Blickfallen. Beide geben vor, etwas zu zeigen, was Jacques Lacan zusammenfasst in der Formel “Du willst also sehen. Nun gut, dann sieh das!” (1) Doch damit, was nicht zu sehen ist, subvertieren die Bilder die cartesische Ordnung des Sehens. Wie Vexierbilder oder Anamorphosen sabotieren sie ein Sehen, “das sich selbst genügt, indem es sich als Bewusstsein imaginiert” (2). Damit führt die Betrachtung mitten in den Diskurs zur Spaltung von Auge und Blick, den Lacan unter dem Titel “Vom Blick als Objekt klein a” fasst. Der Blick, der das sehende Auge des Subjekts in dessen geometralen Zentrum definiert, ist im Bild deponiert als Objekt klein a, losgelöst vom Betrachter, der sich mit den gezeigten Betrachtern bereits auf der Ebene des Tableaus bewegt.

Auch er wird verleitet, im Modus des “fort eines da, und des da eines fort” zu sehen (3), was ihn die Spaltung des Subjekts vergessen lässt in der Hoffnung, daß das, was nicht zu sehen ist, sich (re)präsentieren wird, dh die Leere, die “zu sehen ist”, verschwindet. Denn das vom Blick ausgehende Konstrukt des Subjekts und des geometralen Zentrums im Tableau - der imaginäre, unsichtbare wie körperlose Bildmittelpunkt - verhindert als perspektivische Konstruktion eines unendlich fernen, und damit unereichbaren Punktes zum einen jede zukünftige, gegenwärtige oder vergangene Anwesenheit des immer schon imaginären, unsichtbaren wie körperlosen anderen, indem er dessen absolute Differenz zum Geometralpunkt markiert. Zugleich schreibt sich damit aber auch ein Mangel, ein Bedürfnis nach Erfüllung des Wunsches "zu sehen” ein, indem er "das [zeigt], was, weil vorgestellt, nicht da ist – weil es Repräsentanz der Vorstellung ist " (4), und zwar eines Bildmittelpunkts wie eines anderen, dessen Repräsentanz schlicht und einfach fehlt.

Damit wird in “naissance d’un objet” auf den Topos des Unheimlichen, wie er u.a. in Horrorfilmen verfremdet wird, referenziert: das sehende Subjekt ist schon als Teil des Tableaus vom Lichtpunkt her erfasst: "ich sehe nur von einem Punkt aus [Geometralpunkt], bin aber in meiner Existenz von überhall her [schon] erblickt" (5). Unheimlich ist so der Umschlag der Erkenntnis, daß dem Subjekt bereits etwas vorausgegangen ist, was es im Blick begründet und dem es absolut ausgeliefert ist. Der im zu-sehen-gegebenen-Bild deponierte Blick ist der Blick des anderen als Objekt klein a. "Der Blick um den es hier geht, ist also in der Tat Gegenwart des anderen als solchen." (6) und nichtsdestoweniger handelt es sich um einen Versuch seiner Bestimmung. Die damit einhergehende Verunsicherung über das eigene Dasein wird dagegen weniger gemildert aufgrund eines Bewusstseinsaktes dh der Genügsamkeit über eine Präsenz im Fluchtpunkt des anderen, sondern über die messianische Verkündigung der Geburt eines Objektes klein a. Geburt des Objekts als ewige Wiedergeburt, ewige Wiederholung des ewigen Ausgeliefert-seins – kurz: die Befreiung von falschem weil verkennenden Bewusstsein.

Denn "in dem Maße, wie der Blick, als Objekt a, jenes zentrale Fehlen, das sich in der Erscheinung der Kastration ausdrückt, zu symbolisieren vermag, in dem Maße auch, wie der Blick ein seiner Natur nach auf eine punktförmige, verschwindende Funktion reduziertes Objekt a ist, lässt er das Subjekt in Unwissenheit darüber, was jenseits des Scheins ist." (7) – und setzt so die Wiederholung des “Sehen-wollens” in Bewegung / ins Werk.

Der Blick ist nie zu fassen und wird daher mehr als jedes andere Objekt verkannt (8). Der Zuschauer, der das Bild zu sehen bekommt, glaubt daher, einer banalen Täuschung, einer primitiven Schauspielerübung aufzusitzen und bemerkt insofern nicht, wie er quasi unter der Hand zum Hauptprotagonisten, zum Subjekt des Geschehens wird, dh der Blick ihn in zweierlei Hinsicht “angeht”: Er ist es, um den die Betrachtungen der Schauspieler kreisen und er ist es auch, der das “Zentrum” nie dort erblickt, wo er es sieht.

"Es geht also eigentlich um die Täuschung des Auges. Über das Auge triumphiert der Blick." (9)

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(1) Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Quadriga, Verlag Berlin, 1987: S.107 “Du willst also sehen. Nun gut, dann sieh das! Er [der Künstler] gibt etwas, das eine Augenweide sein soll, er lädt aber den, dem er sein Bild vorsetzt ein, seinen Blick in diesem zu deponieren, wie man Waffen deponiert”.

(2) ebda S.80 “Man wird so bemerken, daß die Funktion des Flecks und des Blickes dieses Feld im Innersten regiert, gleichzeigit aber sich jener Art Sehen entzieht, das sich selbst genügt, indem es sich als Bewusstsein imaginiert”.

(3) ebda S.69

(4) ebda “Das Spiel meint wesentlich das, was, weil vorgestellt, nicht da ist, - es ist Repräsentanz der Vorstellung. Was aber wird aus der Vorstellung, wenn, von neuem, die Repräsentanz der Mutter […] fehlen sollte?”.

(5) ebda S.78

(6) ebda S.91

(7) ebda S.83 "In dem Maße, wie der Blick, als Objekt a, jenes zentrale Fehlen, das sich in der Erscheinung der Kastration ausdrückt, zu symbolisieren vermag, in dem Maße auch, wie der Blick ein seiner Natur nach auf eine punktförmige, verschwindende Funktion reduziertes Objekt a ist, lässt er das Subjekt in Unwissenheit darüber, was jenseits des Scheins ist –diese Unwissenheit, die so bezeichnend ist für jeden Fortschritt des Denkens auf der durch die philosophische Forschung konstruierten Bahn."

(8) ebda S.90 “Er wird daher mehr als jedes andere Objekt verkannt, und ist vielleicht deshalb auch Grund, weshalb das Subjekt so gerne den ihm eigenen Zug des Schwindens und der Punktualität in der Illusion des Bewusstseins, sich sich sehen zu sehen, symbolisiert, in der der Blick elidiert wird."

(9) ebda S.109 "In jenem klassischen Apolog von Zeuxis und Parrhasios gelingt es Zeuxis, Trauben zu verfertigen, die selbst Vögel zu täuschen vermögen. Wichtig dabei ist aber nicht, daß diese Trauben perfekte Nachahmungen von wirklichen Trauben dargestellt hätten, wichtig ist, daß sogar Vogelaugen sich täuschen liessen […] Es geht also eigentlich um die Täuschung des Auges. Über das Auge triumphiert der Blick."