Erkennbar wird bei dieser Infragestellung so vieler Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten des 20. Jahrhunderts unter anderem, in welch hohem Maße der technologische Entwicklungsstand und die aus ihm resultierende Organisation der durchschnittlichen Produktionsabläufe auch die zeitgenössischen Vorstellungen vom Charakter kreativer wissenschaftlicher und künstlerischer Tätigkeiten prägte. Diesen Vorstellungen entsprechend wurde dann etwa Ausbildung und Ausübung organisiert. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis, das in der frühen Neuzeit Wissenschaft wie Kunst dominierte, entsprach den Verhältnissen von Meister, Geselle und Lehrling in den mechanisch-handwerklichen Kleinbetrieben. Mit der Manufaktur und dem Ausbau staatlicher Verwaltung entstanden größere Künstlerwerkstätten, Akademien und Universitäten. Im Zuge der Industrialisierung wandelten sie sich dann von Klein- und Mittel- zu Großbetrieben, zu Studier-, Denk- und Traumfabriken. Die Massenuniversitäten mit ihrem anonymen Betrieb und bürokratischen Leerlauf, die seit den siebziger Jahren in Deutschland die Regel wurden, vollzogen nach, was Industrie und staatliche Verwaltung vorgemacht hatten.
Die äußeren Umstände deuten so an, wie auf der jeweiligen Zivilisationsstufe auch inhaltlich von kreativer Arbeit gedacht wurde. Das mechanische Bewusstsein wollte Wissenschaft und Forschung nach den Modellen von Kausalität und manuell-individueller Wiederholbarkeit betreiben. Hinzu kam das organisatorische Moment handwerklichpraktischer Qualitätsarbeit. Das industrielle Bewusstsein wiederum orientierte sich an maschinell zuverlässigem Funktionieren und serieller Wiederholbarkeit. Beides wurde entsprechend dem bürokratisch-praktischen Interesse an einem zeitlich wie quantitativ planbaren Ausstoß organisiert. Dementsprechend feindlich war beiden Varianten bürgerlicher Mentalität alles Unverhoffte und Glückspielhafte – weshalb im Gegenzug anti-bürgerliche Künstler, von den Romantikern über die Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zu Happening- und Pop-Künstlern, für die Rehabilitierung des Ungeplanten und Willkürlichen kämpften, gegen die Verdrängung des existentiellen Geworfenseins und für die Praxis des gewagten Wurfs.
Das Verständnis vom Zufall und der Umgang mit ihm hat so seine technologisch geprägte Geschichte. Überraschungen, die der agrarischen Mentalität Ausdruckhimmlischen Wirkens waren und als so oder so gute, weil göttliche Zeichen interpretiert wurden, galten schon den mittelalterlichen Wissenschaften als lästige oder gefährliche Störung. Die Medizin etwa verwendete die Rede vom Zufall synonym mit Symptom. Die „Zufälle der Verdauung“ seien immer die ersten Anzeichen von Krankheit, heißt es in einem einschlägigen Lehrbuch, und noch Georg Christoph Lichtenberg schreibt von „Schnupfen, Kopfweh und anderen Zufällen“. Die Aufklärung freilich leitete einen Wandel zur modernen Bedeutung ein: Die Rede vom Zufall begann ein unberechenbares Geschehen zu meinen, das individuelle Absichten zunichte machte und sich vernünftiger Lenkung entzog. Das Grimmsche Wörterbuch gibt eine klare Begründung für diesen Bedeutungswandel, der im 17. Jahrhundert begann: „Seitdem die Causalität das wichtigste Problem der Philosophie und die Gesetzmäszigkeit die Grundlage der Naturwissenschaft geworden war, brauchte man ein Wort, um das zu bezeichnen, dessen Ursache unbekannt war.“ Leibniz, der Urvater der Informatik, konnte folgerichtig zum Ziel praktischen Handelns erklären, „dasz man die Zufälle selbst unter das Joch der Wissenschaft“ bringe.
Dieser Wunsch wuchs proportional zum Zerstörungspotential der industriellen Technologien. Mit zunehmender Maschinisierung geriet Ungeplantes immer seltener glücklich. Was in der kreativen Arbeit serendipity hieß, wurde im Alltag zu etwas, das by accident passierte: der Zu- als Unfall. Ihm hatte man daher mit gesteigerter Kontrolle zu begegnen. Dass die industrielle Mentalität möglichst wenig dem Zufall überlassen wollte – am Ende nicht einmal mehr den Lauf der Flüsse oder wie einer sein eigenes Dachgeschoss ausbaute –, entsprach durchaus den gesteigerten Gefahren im Alltag der technisch hochgerüsteten und immer dichter besiedelten Länder. Ein Versicherungswesen, das Schutz gegen alles und jedes offeriert, ist insofern ein logisches Nebenprodukt des industriellen Strebens, durch technische wie bürokratische Maßnahmen möglichst all die Unwägbarkeiten auszuschalten, die einst das Leben auszumachen pflegten. Seinen Höhe- und zugleich Umschlagpunkt erreichte der von den Erfahrungen der Industrialisierung geprägte Kontrollwille in der Idee einer zentral gesteuerten Planwirtschaft, die noch die kreativen Unberechenbarkeiten des Marktes durch rational kalkulierte und vermeintlich effektivere Expertenmanipulation ersetzen wollte.
> Teil 7 Vorbild InternetDas Prinzip Zufall.
In: C’T – MAGAZIN FÜR COMPUTERTECHNIK, 5. Mai 2001, S. 246- 251.
Autor: Gundolf S. Freyermuth, freyermuth.com
Schlagwörter:Kontrolle, Prinzip, Zufall