Mit diesem ungewöhnlichen Schritt reagierte das Nachrichtenmagazin auf die von keinem Experten erwartete Revolutionierung des Arbeits- und Alltagslebens durch den PC. Solch tektonische Verschiebungen von zivilisatorischer Bedeutung markieren die dritte Phase unvorhergesehener Konsequenzen technologischer Innovation: dass bahnbrechende Geräte wie Telefon, Radio oder PC binnen kurzem historisch gewachsene Strukturen vernichten und damit Platz für neue zivilisatorische Ordnungen schaffen; dass sie also, in den Worten Joseph Schumpeters, „schöpferische Zerstörungen“ in einem Maße auszulösen vermögen, das die Vorstellungskraft der Erfinder und ihrer Zeitgenossen überschreitet. „Kann man sich vorstellen, Orville Wright das System der Frequent-Flyer-Meilen zu erklären?“ fragen Denning und Metcalfe spöttisch in ihrer Diskussion sozialer Technik- Folgen: „Man stelle sich vor, wir erweckten Henry Ford zum Leben und zeigten ihm die heutigen Autos. Die Veränderungen im Design würden ihn wenig wundern: Autos haben immer noch vier Räder, ein Lenkrad, Verbrennungsmotoren, Getriebe und so weiter. Aber er wäre sehr verwundert über die Veränderungen in den menschlichen Verhaltensweisen, die sich rund um das Automobil herum ausgebildet haben – zum Beispiel die Frisiererei der Hot Rods, vorstädtische Einkaufszentren, Drive-In-Fast- Food-Restaurants, Autos als Statussymbol, regelmäßige Staus im Berufsverkehr, Verkehrsnachrichten im Radio und so vieles mehr.“
Mit der Industrialisierung setzte im 19. Jahrhundert eine dramatische Beschleunigung technologischer Innovation und in ihrem Gefolge auch soziokultureller Umwälzungen ein. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eskaliert die Digitalisierung diesen Prozess noch ein weiteres Mal. Doch historisch gänzlich neu sind solch tiefgehende Erschütterungen der zivilisatorischen Tektonik keineswegs. Als Gutenberg die ersten Bibeln druckte, konnten weder er noch seine Zeitgenossen ahnen, dass die zunehmende Verbreitung von Heiligen Schriften ein halbes Jahrhundert später Luther die materielle Grundlage für sein revolutionäres Argument liefern sollte, die Menschen müssten die Bibel selbst lesen statt sich auf die Interpretationen der katholischen Kirche zu verlassen. Genauso wenig war vorherzusehen, was Paul Levinson als den weiteren historischen Dominoeffekt des Buchdrucks beschreibt: „dass die Druckerpresse durch die Verbreitung verlässlicher Informationen die wissenschaftliche Revolution auslösen sollte, ebenso das Zeitalter der Entdeckungen durch die Verbreitung gedruckter Beschreibungen von Columbus’ Reise in die Neue Welt (er war mit Sicherheit nicht der erste – die Skandinavier trafen vor Columbus ein –, er war nur der erste, der nach den Druckerpressen kam); den Aufstieg der Nationalstaaten durch die Publikation von Texten in den Volkssprachen und das Entstehen des öffentlichen Erziehungssystems als Reaktion auf das dringende Bedürfnis, lesen zu lernen, das durch die plötzliche Verbreitung von Büchern entstanden war“.
Den Anfang ähnlich gewaltiger Verschiebungen in der zivilisatorischen Tektonik erleben wir gegenwärtig als Folge globaler Vernetzung und der damit einhergehenden Durchsetzung von Echtzeitverhältnissen in immer mehr Arbeits- und Lebensbereichen. Internet und WWW demonstrieren dabei in allen drei erwähnten Phasen – Forschung, sozialer Gebrauch, historische Folgen – Technik- als Zufallsgeschichte. Schon das Entstehen der ersten Formen von vernetzter Echtzeit-Kommunikation verdankte sich nicht gezielt oder auch nur erfolgreich betriebener Forschung, sondern einer recht chaotischen und im nachhinein fast unglaublichen Verkettung wiederholt scheiternder Anstrengungen und unberechenbarer politischer Wechselfälle.
Während der letzten Monate des Zweiten Weltkriegs wurde das Servomechanisms Labaratory des MIT von der US-Armee mit der Entwicklung eines Echtzeit- Flugsimulators betraut. Geplant war das Project Whirlwind als Zweijahres- Unternehmen mit einem bewilligten Budget von 200 000 Dollar. Die Konstruktion des Steuerungscomputers mit der dazu nötigen Rechenleistung wollte jedoch nicht gelingen. „In einem konservativeren und rationalen Forschungsumfeld“, urteilen Aspray und Campbell über den sorglosen Umgang der Armee mit den Steuergeldern, „wäre das Projekt wohl eingestellt worden.“ Als Whirlwind vier Jahre nach Kriegsende noch immer keine endgültigen Ergebnisse vorweisen konnte, stand es trotz des ungemein geschickten Lavierens seines politisch gut positionierten Leiters tatsächlich kurz vor dem Aus – und wurde in letzter Minute vom Kalten Krieg gerettet.
Die USA benötigten zur Abwehr der Bedrohung durch russische Atombomber ein Frühwarnsystem. Auch dazu waren leistungsfähige, vernetzte Computer nötig, und Whirlwind war allen Misserfolgen zum Trotz weiter fortgeschritten als sämtliche vergleichbaren Forschungsprojekte. Das Unternehmen wurde wiederbelebt, gänzlich neue Ziele wurden gesetzt, üppige Finanzierungsrunden folgten. Acht Jahre später als geplant und acht Millionen Dollar teurer schuf dann, was als Suche nach einer Flugsimulator-Technologie begonnen hatte, die Grundlagen für SAGE, das weltweit erste Echtzeit-Frühwarnsystem – das jedoch wiederum erst ein Jahrzehnt später in Dienst gestellt wurde, als es aufgrund neuer sowjetischer Interkontinentalraketen längst von der Realität überholt und weitgehend nutzlos geworden war.
Wenn Whirlwind im Hinblick auf die beiden einander ablösenden Ziele Echtzeit- Flugsimulator und Frühwarnsystem auch nicht gerade von besonderem Erfolg war, so zeitigten die dabei entwickelten Technologien dann jedoch zweckentfremdet weitreichende Wirkungen im zivilen Alltag. SABRE, das von IBM für American Airlines entwickelte erste interkontinentale Echtzeit-Buchungssystem, bewies die Praktikabilität und den gewaltigen ökonomischen Nutzen des weitläufigen real time computing. Mit ihm wurde der Computer vom isolierten Rechner zum vernetzten Kommunikationsgerät.
Ende der sechziger Jahre begann dann mit dem militärisch-wissenschaftlichen DARPANET die Entwicklung zum Internet. Auch sie war von zahllosen Zufällen, Umorientierungen und vor allem zunehmender Umfunktionierung gekennzeichnet. „Ich war mir bewusst“, beschreibt Janet Abbate ihre ersten Online-Erfahrungen, „dass das Internet vom Verteidigungsministerium eingerichtet worden war, aber hier saß ich und benutzte das System, um mich mit meinen Freunden zu unterhalten und um mit fremden Leuten Rezepte auszutauschen – das war, als würde ich mit einem Panzer eine Spritztour unternehmen.“
Die vollständige Zweckentfremdung des für gutausgebildete Eliten geschaffenen Kommunikationsmediums zu einer Mischung aus globalem Marktplatz und Themenpark geschah schließlich mit dem WWW – wieder einmal ganz entgegen den Absichten des Erfinders Timothy Berners-Lee, dem es um die Verbreitung von Wissen und Bildung ging, sowie der Institution CERN, die das Projekt finanziert hatte und dessenVerantwortlichen der einsetzende Rummel eher peinlich war. „Das Web selbst ist eine Art von Exaptation im großen Maßstab“, stellt daher Steven Johnson fest: „Ursprünglich entworfen als lokales Ablagesystem für akademische Forschung, wurde es fast über Nacht zu einem Massenmedium, dass Nachrichten, Shows, Tagebucheinträge, Soft-Porn und praktisch alles, was man sich vorstellen kann, zu einem weltweiten Publikum von Infokonsumenten transportierte.“
So nachhaltig die ökonomischen, sozialen und kulturellen Verwerfungen schon sind, die historischen Spätfolgen dieser Öffnung eines globalen Echtzeitraums zum Austausch von Ideen, Informationen und Waren lassen sich noch kaum abschätzen. Nur darin sind die meisten zeitgenössischen Experten sich einig: Was die epochalen Konsequenzen angeht, werden es PC, Internet und WWW allemal mit der mechanischen Druckerpresse aufnehmen können. Dem tradierten zivilisatorischen Dreischritt agrarischmechanisch-industriell folgt nunmehr eine vierte, die digitale Stufe, und mit diesem Historischwerden der Industrialisierung entsteht wie in noch jeder Schwellenepoche eine neue Perspektive auf die bisherige Geschichte des Fortschritts und darauf, wie er zustande kam.
> Teil 6 Digitalisierung des ZufallsDas Prinzip Zufall.
In: C’T – MAGAZIN FÜR COMPUTERTECHNIK, 5. Mai 2001, S. 246- 251.
Autor: Gundolf S. Freyermuth, freyermuth.com
Schlagwörter:Kontrolle, Prinzip, Zufall