Unzählige Beispiele solch unglücklich-glücklicher Verkettungen finden sich in der Technikgeschichte. Ungeplante Erfindungen und ihre unvorhersehbaren sozialenKonsequenzen waren alles andere als seltene Ausnahmen, sie hatten vielmehr beachtlichen Anteil an der Entwicklung, die zur High-Tech-Zivilisation in ihrer heutigen Gestalt führte. Vom technologischen Fortschritt als einer langen Reihe von Zufällen zu denken – diese Gewohnheit setzte sich freilich weder in der Wissenschaft noch im öffentlichen Bewusstsein durch. Denn derlei Wechselfälle des Schicksals passten schlecht in auf Rationalität zielende Denk- und Erzählmuster, denen die Geschichtsschreibung der industriellen Epoche umso mehr gehorchte, wenn sie sich mit Wissenschaft und Technik beschäftigte.
Dass etwa wesentliche Teile der Kommunikations- und Unterhaltungstechnik militärischen Ursprungs sind, der digitale Computer daher die Verschmelzung von Medien- und Kriegstechnik darstellt und dank dieser bedenklichen Genesis auch in seiner gegenwärtigen Geltung Tod und Vernichtung berge, diese Interpretation des PCs als Krönung einer abendländischen „Kriegsmediengeschichte“ mochte einst überraschen und auch Widerstand wecken, als Friedrich Kittler, enfant terrible und zugleich Doyen der deutschen Digitalphilosophie, sie in den achtziger und neunziger Jahren entwickelte. Doch so ketzerisch der „mit Militärmetaphern durchtränkte informationstheoretische Materialismus“ (Telepolis) zu Zeiten war – das grundsätzliche Vorurteil, Technikgeschichte sei das Resultat rationaler Anstrengungen, wurde durch Kittlers Thesen in der Tradition aufklärerischen Kontrolldenkens keineswegs in Frage gestellt, sondern vielmehr bestätigt. Die Behauptung eines von mächtigen militärischen Interessen gesteuerten Fortschritts korrelierte den Vorurteilen der – ob links oder rechts – im Grunde technikfeindlichen bildungsbürgerlichen Intelligenz. Die Geburt der technischen Zivilisation aus Zufälligkeiten und Unberechenbarkeiten hingegen entsprach nicht dem Vorurteil vom rücksichtslos rationalen Fortschritt. Ihn begriff man, etablierten Denkgewohnheiten folgend, lieber in den Kategorien mechanischer Kausalität, effektiver Arbeitsorganisation oder zumindest struktureller Kohärenz. Die wiederkehrenden Selbsttäuschungen und Glücksfälle auf Seiten der Forscher und Erfinder sowie Verwirrungen und Verkehrungen in der massenhaften Durchsetzung lieferten daher zwar Erzählstoff für populäre Biografien. In wissenschaftlichen Standardwerken jedoch pflegten sie, wenn überhaupt einzigals amüsante und nebensächliche Anekdoten aufzutauchen, als eher unwichtige Zufälligkeiten und nicht als wesentliches Element der Technikgeschichte. Erst mit der Digitalisierung und dem überraschenden Wuchern von Internet und World Wide Web eröffneten sich neue Perspektiven auch auf den historischen Verlauf von Mechanisierung und Industrialisierung. Ende der neunziger Jahre erschienen daher mehrere Untersuchungen, die diesem missachteten Aspekt der Technikgeschichte Aufmerksamkeit schenkten – ganz im Sinne von Nietzsche Diktum: „Wir klugen Zwerge, mit unserem Willen und unseren Zwecken, werden durch die dummen, erzdummen Riesen, die Zufälle, belästigt, über den Haufen gerannt.“
In ihrer Einleitung zu Beyond Calculation: The Next Fifty Years of Computing, einer zum fünfzigsten Gründungstag der American Association for Computing erschienenen Sammlung von Zukunftsprognosen führender Theoretiker und Praktiker der digitalen Revolution, betonen die Herausgeber Peter J. Denning und Robert M. Metcalfe etwa die Unberechenbarkeit des technologischen Fortschritts und seiner sozialen Folgen. Ebenso räumt Paul Levinson in The Soft Edge: A Natural History and Future of the Information Revolution den “unintended consequences” gerade der medialen Basiserfindungenbreiten Raum ein. David H. Gelernter schildert in Machine Beauty: Elegance and the Heart of Technology wie der Computer sich aus Gründen durchsetzte, „die weit jenseits dessen lagen, was seine Erfinder unrsprünglich beabsichtigten”. Und auch Steven Johnson beschäftigt sich in Interface Culture: How Technology Transforms the Way We Create and Communicate mit diesem scheinbar irrationalen, weil statt logischen Schritten evolutionären Prozessen folgenden Lauf des technologischen Fortschritts.
> Teil 3 Phase 1: Glückliche Fügung Das Prinzip Zufall.
In: C’T – MAGAZIN FÜR COMPUTERTECHNIK, 5. Mai 2001, S. 246- 251.
Autor: Gundolf S. Freyermuth, freyermuth.com
Schlagwörter:Kontrolle, Prinzip, Zufall