Seit dem 17. Jahrhundert scheint sich Wissenschaft kein anderes Ziel zu setzen als das der Entzauberung und Enträtselung. In hartem Kampf gegen die Kirche hat sie das Wunder mit dem Stahlbesen aus der Natur getrieben. „Es geht alles mit ganz natürlichen Dingen zu“ – das ist der Slogan, der uns in den Ohren dröhnt. Die Natur wurde sterilisiert, das Geheimnis sollte und durfte in ihr keinen Platz einnehmen. An dieser Entzauberung hat sich die Philosophie machtvoll beteiligt. So heißt es etwa bei Leibniz (1646 – 1716): „dass alles durch ein festgestelltes Verhängnis herfürgebracht werde ist ebenso gewiss, als drei mal drei neun ist. Denn das Verhängnis besteht darin, dass alles aneinander hänget wie eine Kette, und ebenso ohnfehlbar geschehen wird, ehe es geschehen, als ohnfehlbar es geschehen ist, wenn es geschehen… so gar, dass wenn einer eine genugsame Insicht in die inneren Teile der Dinge haben könnte, und dabei Gedächtnis und Verstand genug hätte, um alle Umstände vorzunehmen und in Rechnung zu bringen, würde er ein Prophet sein, und in dem Gegenwärtigen das Zukünftige sehen, gleichsam als in einem Spiegel“.
Mit anderen Worten, die Natur ist im Prinzip – „wenn nur einer Gedächtnis und Verstand genug hätte“ – eine durch und durch berechenbare Maschine, ein Uhrwerk, wo alles nach unverbrüchlichen, ewigen Gesetzen geschieht. Drei Jahrhunderte später finden wir bei einem Denker von vergleichbarer Statur, bei dem großen Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell (1872 – 1970), denselben Gedanken nur in eine etwas modernere Form gegossen: „Man geht davon aus, dass die Materie aus Elektronen und Protonen besteht, die von endlicher Größe sind und von denen es nur eine endliche Zahl in der Welt gibt… Die Gesetze dieser Änderungen lassen sich anscheinend in einer kleinen Zahl sehr allgemeiner Prinzipien zusammenfassen, welche die Vergangenheit und Zukunft der Welt determinieren, sobald irgendein kleiner Ausschnitt des Weltgeschehens bekannt ist“. Kein Geringerer als Albert Einstein hat diese Überzeugung auf die kürzeste jemals für die Welt als Uhrwerk gefundene Formel gebracht. Einsteins Diktum lautet in aller Knappheit: „Gott würfelt nicht“. Mit anderen Worten: Gott hat eine Maschine erfunden, die nach Gesetzen funktioniert und wo Freiheit – der Würfel – keinen Platz haben kann.
Einstein hat sich darin als begeisterter Schüler des Philosophen Baruch Spinoza (1632 – 1677) erwiesen – auch für diesen hat es in der gesamten Natur nicht den Funken von Freiheit gegeben. Wenn wir von Zufall sprächen, würden wir damit allein die Tatsache ausdrücken, dass wir bestehende Notwendigkeiten noch nicht als solche durchschauen. „Nachdem ich hier sonnenklar gezeigt habe, dass es ganz und gar nichts in den Dingen gibt, weswegen sie zufällig heißen dürften, will ich jetzt mit ein paar Wörtern auseinandersetzen, was wir unter zufällig zu verstehen haben… /zufällig/ heißt ein Ding… allein im Hinblick auf einen Mangel unserer Erkenntnis und sonst aus keiner anderen Ursache.“
Freiheit und Wunder? Wo sind diese im heutigen Weltbild der Wissenschaften zu finden? Haben diese nicht alles, was daran erinnern könnte, mit herrischer Vernunft aus der Natur hinausgetrieben? Ist die Natur unter ihrem analytischen Griff nicht zu einem toten Gehäuse geworden, entleert von allem Geheimnis und letztlich vom Leben, weil Natur nicht mehr als bloße Mechanik sei – von Physikern, Biogenetikern, Chemikern usw. restlos in ihre abstrakten Grundelemente zerlegt?
Die kurzlebige Erschütterung durch die Quantenphysik
Vor einem Jahrhundert sah es zeitweilig anders aus. Die in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts zu plötzlicher Prominenz aufgerückte Quantenphysik schien dem Ehrgeiz der totalen Enträtselung Einhalt zu gebieten. Der Nobelpreisträger Werner Heisenberg (1901 – 1976) wies das bis dahin geltende Grundprinzip der klassischen Physik zurück, wonach man jeder bestimmten Wirkung auch eine ganz bestimmte Ursache zurechnen könne. Eine Wirkung wie der Zerfall eines bestimmten Atoms besaß nur noch eine numerisch präzisierbare Tendenz auf bestimmte Anfangsbedingungen zu folgen. Heisenberg drückt das auf folgende Weise aus. „Zum Beispiel kann ein Radiumatom ein Alpha-Teilchen aussenden. Wenn die Aussendung des Alpha-Teilchens beobachtet wird, so fragen die Physiker …nicht mehr nach einem vorausgehenden Vorgang… Logisch wäre es durchaus möglich, nach einem solchen… Vorgang zu suchen… Warum hat sich nun die wissenschaftliche Methode… in dieser sehr grundlegenden Frage geändert? … Wenn wir den Grund dafür wissen wollen, warum das Alpha-Teilchen eben in diesem Augenblick emittiert wurde, so müssten wir dazu den mikroskopischen Zustand der ganzen Welt, zu der auch wir selbst gehören, kennen, und das ist sicher unmöglich.“
Man beachte, der Determinismus – die mechanistische Sicht auf Mensch und Natur – ist auch bei Heisenberg keineswegs aufgegeben. Er weicht nur einer vorsichtigeren Formulierung. Wir können den mikroskopischen Zustand der ganzen Welt unmöglich kennen. Nur weil uns solche Allwissenheit für immer versagt bleibt, werden wir die Mechanik des uns umgebenden Geschehens nie ganz entschlüsseln können. Würden wir jedoch nach Art einer unendlichen Intelligenz den gesamten Zustand der Welt vor Augen haben, dann dürften wir immer noch mit Einstein behaupten, dass Gott auch im Allerkleinsten nicht würfelt. Denn Gott würde wissen, warum ein bestimmtes Atom gerade jetzt zerfällt. Aus Heisenbergs philosophischen Bemerkungen zur Quantenphysik lässt sich keineswegs folgern, dass die moderne Physik der Natur die verlorene Freiheit zurückgegeben hätte. Eine derartige Rolle haben ihr nur Enthusiasten angedichtet, zu denen etwa Fritjof Capra gehört. Er und andere Vertreter des New Age schwärmten vom „Tao der Physik“: einem Weltbild der Freiheit, das sie aus der Quantenphysik ableiten wollten. Von solchen Bemühungen ist inzwischen kaum mehr die Rede. Obwohl die praktische Bedeutung der Quantenphysik in den vergangenen Jahrzehnten mit jedem Tag größer wurde, ist es um ihre vermeintlich revolutionären Auswirkungen auf unsere Weltsicht recht still geworden. Die Quantenphysik hat die Welt nur noch weiter enträtselt – das Geheimnis hat sie ihr nicht zurückgegeben.
Bleibt der Mensch als Refugium der Freiheit?
Nun, das war jetzt ein rasender Höhenflug über vierhundert Jahre Geschichte der wissenschaftlichen Natursicht. Wer aus solcher Entfernung nach unten schaut, sieht nichts mehr von Hügeln und Tälern. Die aber waren natürlich immer vorhanden. Deutsche Romantik und philosophischer Idealismus, Vitalismus und nicht zuletzt der Existenzialismus haben gegen das später so genannte „mechanistische Weltbild“ mit aller Kraft protestiert. Sie haben es hinterfragt, zu widerlegen oder mindestens zu relativieren versucht. Es bleibt aber die Frage, was von ihren Bemühungen übrig blieb? So gut wie nichts, muss man wohl sagen, wenn man sie im Hinblick auf ihre Nachhaltigkeit bewertet. Nach wie vor gehen die Naturwissenschaften davon aus, dass die Welt eine Maschine sei, die sie in ständig fortschreitendem Maße enträtseln. Ihr Erfolg, so wie er sich in der siegreichen wissenschaftlich-technischen Zivilisation unserer Zeit manifestiert, scheint ihnen recht zu geben.
Muss der Leser nicht umso mehr über den seltsamen Titel erstaunen? Freiheit und Wunder? Ja, wo findet man diese im Weltbild der Wissenschaften?
Oder sind hier etwa die Geisteswissenschaften gemeint? Diese haben es bekanntlich mit dem Menschen zu tun; Physik, Chemie, Astronomie, Atomphysik usw. dagegen ausschließlich mit der nicht-menschlichen Natur. Die empirischen Naturwissenschaften haben die Freiheit aus der Welt als Uhrwerk eskamotiert, aber läuft das zwangsläufig darauf hinaus, dass sie nun auch im Menschen keinen Platz mehr findet? Ist es den Wissenschaften vom Menschen gelungen, das tote Uhrwerk der Natur wieder mit Leben und Freiheit aufzufüllen?
In der frühesten Form seiner Wissenschaft von Mensch und Natur – zu der wir die verschiedenen Spielarten der Religion rechnen können – hat der Mensch vorzugsweise sich selbst eine Stellung an der Spitze der Schöpfung vorbehalten. Er hat sich über die Natur gestellt, wollte mehr und etwas Höheres sein als diese. Warum sollte er nicht Geheimnis, Spontaneität und Kreativität – die Attribute der Freiheit – für sich selbst reservieren, während er die Dinge der ihn umgebenden Natur dem Zwang der Gesetze ausliefert?
Auf diese Frage hat der brillante Spötter Voltaire (1794 – 1878) eine für die Folgezeit autoritative Antwort gegeben: „Es wäre schon recht erstaunlich“, schrieb der französische Aufklärer, „wenn alle Sterne ewiger Gesetzhaftigkeit unterliegen, während nur ein unscheinbares Tier von fünf Fuß Größe sich nach Belieben ihnen widersetzen darf, gerade wie seine Launen es ihm gebieten. Dann würde es dem Zufall gehorchen, aber man weiß, dass der Zufall ein Nichts ist. Dieses Wort haben wir erfunden, um die bekannte Wirkung für eine nicht bekannte Ursache zu bezeichnen.“ In diesem Diktum spiegelt Voltaire die Auffassung der Wissenschaften, wonach die Natur eine Einheit sei. Wäre es nicht unsinnig, sie in zwei Hälften zu zerlegen, so als würden die Gesetze der einen Hälfte nicht für die andere gelten? Das entspräche einem vorwissenschaftlichen Weltbild. Bertrand Russell, der sich auch hier auf den in der Wissenschaft vorherrschenden Standpunkt stellt, bleibt zwei Jahrhunderte später ganz auf der Linie des großen Franzosen. „Wir wissen nicht, auf welche Weise sie /die Einzeller/ sich am Anfang entwickelten, aber ihre Entstehung ist nicht geheimnisvoller als die der Heliumatome. Es gibt keinen Grund für die Vermutung, dass die lebende Materie Gesetzen unterworfen ist die verschieden von denen sind, welchen die nicht-lebende gehorcht. Und es gibt gute Gründe anzunehmen, dass theoretisch alles im Verhalten der lebenden Wesen in den Begriffen der Physik und der Chemie erklärt werden kann.“
Bei Heidegger wird die Natur in zwei Hälften zerrissen
Ungefähr zu derselben Zeit, als Russell dieses Statement abgab, hat ein existenzialistischer Denker, Martin Heidegger, das darin formulierte Weltbild gewaltsam durchbrochen. Er tat dies allerdings nicht wie der englische Philosoph in der Tradition rationalen Denkens, sondern indem er sich von diesem losriss und einfach einen Ukas erließ. Der Mensch sollte frei sein. Dem Verdikt der Wissenschaften stellt der deutsche Prophet sein Credo entgegen. Der Mensch entwerfe sich selber, kraft seiner Freiheit löse er sich aus den Zwängen der Natur, er überwinde sie durch seine Selbstbestimmung. Wohlgemerkt, nur der Mensch. Die Natur bleibt von dieser dekretierten Befreiung ausgenommen. Auch bei Heidegger bleibt sie, was sie für die Wissenschaft ist: ein sinnloses, mechanisches, im Prinzip nach Belieben manipulierbares Gegenüber. Heideggers Welt ist gespalten in eine unfreie Natur, die den Gesetzen verfallen ist, und einen freien Menschen, der sich in diese sinnlose Gesetzesmaschinerie geworfen findet. So geraten wir unversehens in ein vorwissenschaftliches Weltbild zurück. Während die Naturwissenschaften die Welt als unteilbares Ganzes sehen – ihre Gesetze gelten gleichermaßen für Steine, Wolken und lebende Wesen -, reißt Heidegger sie mit Gewalt auseinander. Hier die toten Dinge der Welt als Maschine und Uhrwerk, dort der heillos einsame Mensch, der als einziger die Freiheit zur Selbstbestimmung besitzt.
Das war – sieht man von der New-Age-Bewegung einmal ab – der bisher letzte Ausbruchsversuch aus dem „mechanistischen Weltbild“. Die Naturwissenschaften selbst haben davon so wenig Notiz genommen wie von der machtvollen Esoterikwelle, die seit Jahrzehnten rund um den Globus schwappt. Welch ein schroffer Gegensatz! Während überall auf der Welt Mathematiker, Ingenieure, Atomphysiker und Astronomen mit Formeln hantieren, um die Natur auf ein verlässliches Regelmaß zu reduzieren, besiedeln Esoteriker in heftiger Geschäftigkeit die kahle Maschinerie eines entzauberten Alls mit selbsterschaffenen Geistern, Gespenstern, Feen, Sandmännern und Dämonen. Dazu bedienen sie sich aller Versatzstücke, die sie aus dem kulturellen Nachlass sämtlicher Weltkulturen von der Edda bis zum tibetanischen Totenbuch schöpfen. Während die einen unablässig entzaubern, sind die anderen mit künstlicher Verzauberung beschäftigt. Verzweifelt und mit zweifelhaften Mitteln bemühen sie sich, einer unter den Händen der Wissenschaftler zum mechanischen Spielzeug erstarrten Welt Leben und Atem einzuhauchen.
> Freiheit und Wunder, Teil 2 – Beschwörung von Freiheit und Wunder
http://www.felderfilm.de/blog/zufall/?p=615
©14.11.2011 – Gero Jenner
http://www.gerojenner.com/portal/gerojenner.com/Freiheit_und_Wunder.html
Schlagwörter:Determinismus, Freiheit, wissenschaft, Wunder, Zufall