Dr. Johannes Hagel im Interview mit Romeo Grünfelder
In welcher Tradition bewegen Sie sich mit dem Eisenbahnexperiment?
Von meiner Ausbildung her bin ich Naturwissenschaftler und fühle mich somit im Prinzip der naturwissenschaftlichen Tradition des Experimentes verpflichtet. Ein Experiment ist eine an die Natur möglichst präzise gestellte Frage, deren Beantwortung Aufschluss über Naturgesetzlichkeiten geben sollte, wobei man im Sinne des Permanenzprinzips annehmen darf, dass diese Gesetze von konstanter, räumlich und zeitlicher Gültigkeit sind.
Welches Ziel verfolgen Sie mit dem Experiment?
Die experimentelle Fragestellung ist dahingehend, ob mechanische, unbelebte Systeme die Fähigkeit besitzen, von ihnen unabhängige Zufallsprozesse in solcher Weise abzufragen, dass die abgefragten Zufallsereignisse statistisch signifikant von ihrem Erwartungswert abweichen. Weiters soll die Frage beantwortet werden, ob eine solche Abweichung dem Systemerhalt dienlich sein kann.
Wie verhält es sich dann aber mit der Einmaligkeit des Auftretens solcher Phänomene?
Dies ist das große Problem solcher Experimente. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass Effekte signifikanter Größe zwar festgestellt werden können, sich aber bei längerer Wiederholung des Experimentes abschwächen und sogar bis zur Unmessbarkeit verschwinden. Dieser Effekt, den man unter der Bezeichnung „decline effect“ kennt, verletzt das Konzept des klassischen Experimentes, von dem im naturwissenschaftlichen Verständnis eine vollständige Reproduzierbarkeit verlangt wird. In diesem Sinn sind auch die Resultate des Eisenbahnexperimentes nicht als wissenschaftlich gesichert zu betrachten. Meiner Meinung nach und der von anderen Wissenschaftlern, die in diesem Bereich arbeiten, verhält es sich so, dass der „decline effect“ Teil jener Korrelationsmechanismen zwischen Systemen und Zufallsprozessen ist, die wir untersuchen.
Wie kommen Sie zu der Hypothese, daß belebte, und weiterführend im Eisenbahnexperiment “unbelebte Systeme die Fähigkeit besitzen, unabhänige Zufallsprozesse zu kalkulieren“, wo doch die “Unabhängigkeit” gerade Ausdruck für die Unvorhersehbarkeit ist, mit der gerade nicht kalkuliert werden kann?
Ich glaube, dass der Mechanismus nicht in dieser Art abläuft. Die Systeme kalkulieren den Zufall nicht, sie lassen ihn vielmehr unbeeinflusst ablaufen. Allerdings scheint es eine bestimmte, geringe “Fähigkeit” zu geben, Systemperioden autonom so abzustimmen, dass aus einer unabhängig ablaufenden Zufallsereignisfolge bestimmte Ausprägungen bevorzugt abgefragt werden, sodass die Folge, die sich aus einer Sampelung der unbeeinflusst ablaufenden Zufallsfolge ergibt, messbare Tendenzen aufweist. In dieser Betrachtungsweise löst sich der von Ihnen beschriebene Widerspruch auf, da der ursprüngiliche Zufallsprozess für sich ja unvorhersehbar bleibt.
Nach der Entwicklung des Eisenbahnexperiments führten Sie Untersuchungen mit Massenpublikum durch, dh Sie untersuchten mögliche Erscheinungsformen psychoaktiver Effekte von Stadiumsbesuchern während Fußballspielen, zuletzt zur WM 2010. Auch hier kamen Zufallsgeneratoren zum Einsatz. Wie sieht hier – zwischen belebten Systemen – das Setting aus und welche Funktion hat in diesem Setting der eingesetzte Zufallsmechanismus?
In räumlicher Nähe zu einem wichtigen Fußballspiel (von einigen km bis zu 100km, typische Distanzen im Bundesland Nordrhein-Westfalen) ) läuft während des Spieles eine elektronische Schaltung, in welcher eine niederfrequente, in der Frequenz zufällig variierende digitale Schwingung eine solche mit exakter, viel höherer Frequenz sampelt. (Frequenzverhältnis 1:100 – 1:1000) Die gesampelte Folge der Binärwerte mit den Ausprägungen +1 bzw. -1 wird dann zu einer kumulativen Differenzkurve aufaddiert. Wegen der zwei klar ausgeprägten Grundschwingungen kommt es in Überlagerung auch immer wieder zu Resonanzerscheinungen im fraglichen System, was dann zu einem plötzlichen Ausschlag der CD-Kurven führt.
Wie lässt sich dann aber in diesem Setting das am Eisenbahnexperiment weiterentwickelte Postulat der erwähnten Hypothese des “Systemerhalts” verstehen?
Die Hypothese, die diesem Experiment zugrunde liegt ist – nach Roger Nelson von der Universität Princeton – nicht in erster Linie ein Zusammenhang zwischen dem Selbsterhaltungsstreben eines Systems und einem Zufallsprozess sondern der von starken Emotionen in bewussten Systemen (Menschen) und dem Zufall. Natürlich könnte man auch diesen Zusammenhang in allerdings spekulativer Weise allgemein auch als eine Selbsterhaltungstendenz begreifen, da ein Gewinner (auch der eines Fußballspieles?) im weitesten Sinn auch der Überlebensfähigere ist.
Sie sprechen vom “Declineffekt” als möglichem “Teil der Korrelationsmechanismen zwischen Systemen und Zufallsprozessen”. Heißt das, wenn der Effekt verschwindet, ist – banal gesprochen – mit dem System alles wieder in Ordnung, also die Eisenbahn gerettet und das Fußballspiel mittelmäßig?
Nein, das ist nicht die Bedeutung des “Declineeffektes”. Ich möchte zur Beantwortung der Frage die Physikerin Fotini Pallikari von der Universität Athen zitieren. Ihrer Meinung nach, der ich mich anschließen möchte, muss es einen Balanzierungseffekt einfach deshalb geben, weil es keinen physikalischen Mechanismus gibt, der das Aussampeln bestimmter Ausprägungen aus einer Zufallsfolge ohne physikalische Kopplung ermöglicht. Beobachtet man ein solches Verhalten jedoch über eine bestimmte Zeit, so muss der Deklineeffekt eben irgendwann auch eine gegensinnige Abweichung ergeben, um insgesamt wieder im Bereich der Zufallserwartung zu enden. Naturgesetze “dürfen also für eine bestimmte Zeit umgangen werden”, wenn es nur wieder rückgängig gemacht wird. Ein Effekt, der auch in der Quantenmechanik (virtuelle Teilchen) auftritt.
Interview mit Dr. Johannes Hagel, April 2011
Schlagwörter:Anomalie, Dr. Johannes Hagel, Eisenbahnexperiment, Experiment, Korrelation, Zufall