Von Gundolf S. Freyermuth
Glückliche Fügungen, Zweckentfremdungen, schöpferische Zerstörungen – Digitalisierung und Vernetzung eröffnen neue Perspektiven auf die Geschichte des technologischen Fortschritts und legen zugleich nahe, wie mit Innovationen am besten umzugehen ist.
Alexander Graham Bell war Taubstummenlehrer und zudem begnadeter Bastler. Mit einem technischen Gerät wollte er die Behinderungen seiner Schüler ausgleichen. Heraus kam dabei in den 1870er Jahren keine Hörhilfe im engeren Sinne und auch kein Laut-, sondern eben der Fernsprecher – das erste Kommunikationsmittel, das im 20. Jahrhundert die Welt zum Dorf machen sollte. Zunächst jedoch zog das neue Telefon eine weitere unbeabsichtigte Erfindung nach sich. Denn in den ersten Jahren, als hohe Kosten die Verbreitung beschränkten, telefonierten vorwiegend Geschäftsleute. Sie störte ein gravierender Mangel gegenüber den bis dahin üblichen Kontaktwegen Briefpost oder Telegrafenverkehr: die Mündlich- und damit Flüchtigkeit. Verrauschte und verknisterte Ferngespräche, die ohnehin zu Missverständnissen einluden, hinterließen am Ende keinerlei Belege über die getroffenen Abmachungen. Wichtige Telefonate wurden daher im 19. und frühen 20. Jahrhundert von weiteren Anschlüssen aus umständlich mitstenographiert. Thomas Alva Edison, selbst schwerhörig, wollte dieser dringend empfundenen Unzulänglichkeit des Telefons abhelfen. Er konstruierte deshalb ein Gerät, das Gespräche mitschneiden und zum besseren Verständnis und zu Dokumentationszwecken beliebig oft wieder abspielen konnte, einen Tonschreiber also, den Phonographen.
Der Erfinder hatte sich verrechnet: Die Geschäftswelt verlangte weiter nach papierner Dokumentation. Die erste kommerzielle Anwendung des Phonographen nutzte dann allein dessen Fähigkeit, Sprache realistisch wiederzugeben: aus dem Bauch einer nunmehr plaudernden Puppe. Dieser Einsatz zu Spielzwecken war zukunftsweisend, denn als Unterhaltungsgerät sollte Edisons Erfindungbald die Welt mit Klängen überziehen und so den Siegeszug einer populären, soziale Identitäten stiftenden Musikkultur einleiten, an dessen gegenwärtigem Ende man dem technisch reproduzierten Lärm in praktisch keiner Nische des Planeten mehr entkommen kann.
> Teil 2 Zerrbild des Fortschritts Das Prinzip Zufall.
In: C’T – MAGAZIN FÜR COMPUTERTECHNIK, 5. Mai 2001, S. 246- 251. freyermuth.com
Schlagwörter:Kontrolle, Prinzip, Zufall