Teil III: Das Wunder und die Lücken im Gewebe der Notwendigkeiten
Meines Wissens begegnen wir dieser Einsicht weder in den Naturwissenschaften noch bei jenen Philosophen, die sich um deren Deutung bemühten. Dagegen hat sie ein Dichter in genialer Intuition auf den Punkt gebracht. „Der Mensch…, sagt Friedrich Schiller, „hat… das Vorrecht, in den Ring der Notwendigkeit… durch seinen Willen zu greifen und eine ganz frische Reihe von Erscheinungen in sich selbst anzufangen. Der Akt, durch den er dieses wirkt, heißt… eine Handlung, und diejenigen seiner Verrichtungen, die aus einer solchen Handlung herfließen,… seine Taten.“ Sieht man bei diesem Text davon ab, dass die Freiheit in der Natur zu eng gefasst wird, weil sie sich nur auf den Menschen und sein Handeln bezieht, so spricht Schiller hier eine Wahrheit aus, die dreihundert Jahre lang beflissen unterdrückt worden ist.
Was geschieht bei solchen Eingriffen in den „Ring der Notwendigkeit“? Zum Beispiel stößt dann ein Mensch einen auf der Kippe stehenden Stein mit leichtem Fingerdruck in die Tiefe und löst damit einen gesetzmäßigen Vorgang der Fallbeschleunigung aus. Subjektiv erleben wir das als einen Akt unserer Freiheit, denn es bleibt uns überlassen, ein solches Geschehen willkürlich auszulösen oder auch nicht. Bringt dagegen ein Beben oder ein Windstoß die gleiche Wirkung hervor, so bezeichnen wir das identische Ereignis mit dem abwertenden Begriff des Zufalls. Doch liegt der Unterschied wohl nur darin, dass wir im einen Fall eine Innensicht auf die Freiheit in der Natur besitzen, die uns als eigener Antrieb sinnvoll und selbstverständlich erscheint, während im anderen das Ereignis für uns kein Sinn ergibt und wir deswegen von bloßem Zufall sprechen.
Die empirischen Wissenschaften wollten die Welt entzaubern, in Wahrheit haben sie Zauber und Freiheit als gleichberechtigte Dimension in die Wirklichkeit eingeführt oder, anders gesagt, diese in Wahrheit nie wirklich aus ihr vertrieben. Das geht so weit, dass selbst das Wunder ihren Voraussetzungen keineswegs widerspricht. Die Naturwissenschaften gehen davon aus, dass menschliches Wollen Gesetzmäßigkeiten im Experiment jederzeit abspulen lassen kann – sie lassen diese Gesetzmäßigkeiten also auf einem Sockel von Freiheit ruhen. Durch diese Einbeziehung von Freiheit nehmen sie der Natur den größten Teil ihrer Berechenbarkeit. Unzählige Wesen – nicht nur Menschen – können jederzeit kraft ihrer Freiheit unzählige gesetzmäßige Vorgänge auslösen (oder auch nicht auslösen) – wie dies ja nicht nur in Tausenden von Laboren überall in der Welt geschieht, sondern mit jedem Akt, den wir täglich verrichten, sei es auch nur, indem wir eine Beleuchtung ein- oder ausschalten. Je nachdem, was diese Wesen tatsächlich tun oder nicht tun, entstehen unbegrenzt viele alternative und freie Ereigniswelten, die dennoch in jedem Fall den gleichen Naturgesetzen gehorchen.
Nehmen wir an, dass auch die Eingriffe eines übermenschlichen Wesens zu diesem Sockel der Freiheit gehören, so könnte die Welt wesentlich durch dessen Eingreifen geformt und bestimmt sein, doch würden wir dies nicht einmal bemerken, weil ja kein uns bekanntes Naturgesetz dadurch verletzt wird. Das übermenschliche Wollen würde sich die Lücken im Gewebe der Notwendigkeiten zunutze machen, die Punkte also, auf welche die Freiheit zugreifen kann.
Mit diesem Abschluss will ich nicht der metaphysischen Spekulation oder gar dem Obskurantismus Vorschub leisten; ich möchte nur zeigen, dass wir diese Möglichkeit in einem Universum, dessen gleichberechtigte Dimension neben der Notwendigkeit die Freiheit ist, nicht grundsätzlich ausschließen dürfen. Das Wunder besteht in der Vielzahl möglicher Welten, die wir alle für ganz normal halten würden. Die Wissenschaft selbst beweist es uns durch das Postulat der Freiheit: Es muss keineswegs alles mit ganz natürlichen Dingen zugehen!
©14.11.2011 – Gero Jenner
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Schlagwörter:Determinismus, Freiheit, wissenschaft, Wunder